Raue Pfade

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Der Finanzmathematiker Peter Friz widmet sich einem der vielversprechendsten Felder der Mathematik: der Theorie der rauen Pfade. Die Sichtweise, die maßgeblich in Berlin entstanden ist, hat das Potenzial, Finanzmärkte stabiler zu gestalten.

Für die Finanzmathematik ist die Stochastik fundamental. De facto ist sie das Gleiche wie die Wahrscheinlichkeitstheorie, die durch Glücksspiele und Wetten entstanden und durchaus mit einem üblen Ruf verbunden ist. Aber die Mathematik dahinter ist etwas Wunderbares. Nehmen wir ein Münzspiel: Ich gewinne oder verliere mit jedem Wurf einen Euro und je länger ich spiele, desto mehr gewinne oder verliere ich. Wenn ich 10.000-mal gewinne, habe ich 10.000 Euro. Doch solche Szenarien treten äußerst selten auf. Das typische Verhalten ist nicht 10.000, sondern die Wurzel daraus, also im Bereich -100 bis +100. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung nähert sich mit jedem Spiel immer mehr der Gaußschen Glockenkurve an. 

Diese Funktion ist faszinierend, denn sie ist ein universales Objekt und existiert auch auf einem anderen Stern. Wenn ich die Münzwürfe durch Partikel ersetze, erhalte ich eine sogenannte Brownsche Bewegung. Außerirdische auf einem anderen Stern würden diese Bewegung ebenfalls kennen. Das ist eine der Faszinationen in der Mathematik: Objekte zu finden, die einfach existieren. 

Die Mathematik konnte und wollte sich nie entscheiden, ob sie zur Philosophie oder zu den Naturwissenschaften gehört. Dieser permanente Balanceakt ist auch ihre Stärke, weil sie eben nicht auf eines festgelegt ist. Im Kern von Problemen liegen immer Ideen, Objekte und Konstrukte, die sich in andere Bereiche transportieren lassen. Je besser die Mathematik, desto mehr Transfer gibt es.  

Ein zentrales Gebiet meiner Arbeit ist die Theorie der rauen Pfade aus der numerischen Stochastik. Das ist eine Theorie von Objekten, die mit einem Zeitparameter kommen und ein Partikel modellieren, das sich in der Zeit bewegt. Der Bewegungspfad dieses Partikels ist ein sogenannter rauer Pfad, wie man ihn zum Beispiel in der Brownschen Bewegung sehen kann oder in der zackigen Kurve eines Aktienkurses.  
 

Raue Pfade verbinden Stochastik mit Analysis, Algebra und Geometrie. Dass so viele Bereiche zusammenkommen, hat zu einer Explosion der Möglichkeiten geführt

Schauen wir uns ein brennendes Blatt an. Wenn man es auf einer Seite anzündet, frisst sich das Feuer in das Papier hinein. Zündet man 10.000 Blätter nacheinander an, sieht das im Detail jedes Mal anders aus, wie bei einem Münzwurf. Diese Rauheit verbietet eine klassische Analysis. Der Itô-Kalkül, eine der großen Erfolgsgeschichten der Mathematik des 20. Jahrhunderts, hat in einem gewissen Sinne geschafft, dies zu modellieren. Doch er ist wahrscheinlichkeitstheoretisch aufgestellt und man kann nicht mit dem Finger hinzeigen und sagen: Genau so ist es! Das neue Kalkül der rauen Pfade erlaubt genau das. Es ist die Sichtweise, die immer gefehlt hat – und Berlin hat bei der Entwicklung eine führende Rolle gespielt. 

Raue Pfade sind eines der vielversprechendsten Felder der Mathematik. Sie verbinden Stochastik mit Analysis, Algebra und Geometrie. Dass so viele Bereiche zusammenkommen, hat zu einer Explosion der Möglichkeiten geführt. Es ist so, als würde sich Aladins Schatzkammer vor uns auftun. 

Ich versuche die Grundlagen und Methoden bestmöglich für Anwendungen bereitzustellen. Wir haben unter anderem Beiträge zur Rauen Volatilität geleistet, um Modelle zur Bewertung von Optionen im Finanzmarkt zu verbessern. Optionen sind nicht nur Instrumente der Spekulation, sie dienen auch dazu, sich gegen Risiken wie schwankende Wechselkurse abzusichern. Man kann die Finanzmathematik aber auch losgelöst von jeglicher Anwendung betrachten. Es ist die gleiche Mathematik, die fundamentale Einsichten in der Physik erlaubt. 

Wie das Glücksspiel genießen die Finanzmärkte nicht immer den besten Ruf. Und doch sind sie für den Wohlstand unserer Gesellschaft unerlässlich. Gerade deshalb ist das kritische Verständnis der zugrunde liegenden mathematischen Modelle eine Notwendigkeit. Und je mehr Leute dazu in der Lage sind, desto besser sind wir auch vor Missbrauch und zukünftigen Krisen gewappnet. 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth