Klaviatur der Gene

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Der Neurowissenschaftler und Einstein Visiting Fellow Zoltán Molnár untersucht die Rolle der Gene und der Umwelt für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Besonders beeindruckt ihn ein flüchtiger Zelltyp, der im jungen Gehirn hilft, die neuronalen Schaltkreise aufzubauen – und dann aus gutem Grund verschwindet.

Stellen Sie sich vor, Sie spielen ein Klavierkonzert. Wenn Sie ein paar Tasten entfernen würden, kämen Sie vielleicht durch das Stück, aber der Klang wäre bisweilen wohl unerträglich. Ähnliches kann mit der Genaktivierung während der Gehirnentwicklung passieren. Wir alle haben Tasten, die uns bei der Zeugung mitgegeben werden, und meist kommen wir ohne größere Schwierigkeiten durch das Konzert des Lebens. Doch es kann verheerend sein, wenn eine bestimmte Taste fehlt. Schon die veränderte Expression eines einzelnen Gens kann fatale Folgen für die Entwicklung des Gehirns haben. 

Ich beschäftige mich damit, wie die Komponenten unseres Nervensystems geboren werden, wie sie wandern, zusammengesetzt und aufeinander abgestimmt werden, um ihre Funktionen erfüllen zu können, wie ihre Verbindungen im weiteren Verlauf plastisch bleiben und wie sie schließlich entsorgt werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Ich möchte verstehen, inwieweit die Rechenfunktionen des Gehirns durch die Entfaltung des genetischen Programms bestimmt und andererseits durch die Umwelt beeinflusst werden. Denn während sich unser Gehirn entwickelt, wird unsere gesamte Lebenserfahrung darin eingebettet, insbesondere in der Großhirnrinde. All unsere Erfahrungen prägen das Gehirn – wie viele Sprachen wir sprechen, ob wir Tennis spielen und dabei unsere rechte oder linke Hand benutzen. 

Anders als ein Computer wird das Gehirn konstruiert, während es bereits eingeschaltet ist und Programme ablaufen, die für seinen Aufbau nötig sind. Während dieser Montage der neuronalen Schaltkreise ist ein früh geborener Zelltyp, die sogenannte Subplatte, aktiv. In gewisser Weise fungieren diese Zellen als dynamische Gerüste für den Aufbau der dauerhafteren Zellen. Sie sind die ersten Empfänger von Input in der Großhirnrinde und beginnen mit der Verarbeitung der Informationen, während der Rest der Gehirnzellen noch gar nicht geboren ist. Sobald ihre Arbeit beendet ist, verschwinden die meisten von ihnen wieder. Aber bei Menschen mit kognitiven Störungen, etwa Schizophrenie, Autismus oder Epilepsie, überleben viel mehr dieser Zellen.

Das sich entwickelnde Gehirn ist eine völlig andere Struktur als das eines Erwachsenen und folgt anderen Regeln

Die Erforschung neurologischer Entwicklungsstörungen ist extrem wichtig, weil sie einen gewaltigen Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen und ihrer Familien haben können. Wir brauchen Grundlagenforschung am jungen Gehirn, um ihre Mechanismen zu verstehen. Denn das sich entwickelnde Gehirn ist nicht nur eine kleinere Version des erwachsenen; es ist eine völlig andere Struktur mit anderen Regeln. In Berlin versuchen wir zu verstehen, welche Folgen es hat, wenn die Subplatten in größerer Zahl bestehen bleiben und inwieweit kognitive Dysfunktionen die Folge sein können. 

Einige der Tasten auf unserem genetischen Klavier werden nur in den frühesten Stadien des Lebenskonzertes benötigt, wenn das Gehirn entsteht. Doch diese Tasten sind ganz wesentlich, um ein melodisches und harmonisches Material aufzubauen, das für den Rest des Stückes entscheidend ist. Über Millionen und Abermillionen von Jahren der Selektion haben wir dieses extrem leistungsfähige, großartige Rechengerät in unseren Köpfen entwickelt, das bestens geeignet ist, Kreativität in Kunst und Wissenschaft entstehen zu lassen – vorausgesetzt, wir haben alle Tasten beisammen und den richtigen Input von den frühesten Stadien der Entwicklung an. Der Rest hängt davon ab, wofür unser Rechengerät verwenden.
 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth