Elemente der Extreme

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Halogene sind hoch reaktiv. Ihre chemischen Verbindungen sind wichtig für viele Anwendungen, können aber auch hochgiftig und klimaschädlich sein. Der Chemiker Sebastian Hasenstab-Riedel versucht, ihr chemisches Verhalten genau zu verstehen und so ihre guten Seiten zu nutzen.

Halogene sind Elemente der Extreme. Wir brauchen sie dringend für Hightech-Anwendungen und moderne Materialien. Andererseits können sie sehr langlebige Verbindungen bilden, die sich nur schwer abbauen lassen, umweltschädlich oder sogar krebserregend sein können. Mein Anliegen ist es, chemische Prozesse mit Halogenen weniger gefährlich und nachhaltiger zu gestalten. Es bringt ja nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Stattdessen müssen wir überlegen: Wie können wir halogenierte Verbindungen besser nutzen? Welche können wir recyceln? Und wie lassen sich schädliche Verbindungen aus der Umwelt wieder entfernen?

Mir geht es um Grundsätzliches. Ich komme aus der theoretischen Chemie und habe auf dem Gebiet der fluorierten Verbindungen promoviert. Meine Leidenschaft sind extrem hohe Oxidationsstufen und extrem starke Oxidationsmittel, die andere Moleküle oxidieren können, sie also dazu bewegen, Elektronen abzugeben und zum Beispiel Sauerstoff zu binden. Ich möchte die Grenzen und Limits chemischer Konzepte ausloten. Als Chemiker sehe ich mich aber auch in der Verantwortung, Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden, etwa für die Stromspeicherung in der Energiewende. Wenn aus rein fundamentalen Überlegungen Verbindungen entstehen, die sich nachhaltig nutzen lassen, entfaltet Wissenschaft für mich ihre ganze Kraft.

Wir haben zum Beispiel Moleküle untersucht, die sich nur bei vier Kelvin, das sind etwa -270 Grad Celsius, im Hochvakuum bilden, zuerst Fluor-Verbindungen, dann auch Chlor-Verbindungen. Später haben wir festgestellt: Die Chlor-Verbindungen sind auch bei Raumtemperatur stabil. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sehr große Mengen an Chlor zu speichern. Diese Erkenntnis hat uns bis zur praktischen Anwendung geführt. 

Mehr als 50 Prozent aller Produkte, die über chemische Synthese hergestellt werden, haben währenddessen ein Chlor-Atom „gesehen“ oder beinhalten eins. Um all dieses Chlor, rund 90 Millionen Tonnen weltweit im Jahr, über Chloralkali-Elektrolyse zu produzieren, verbrauchen wir Unmengen an Strom – schätzungsweise zwei bis drei Prozent des deutschen Energiebedarfs. Weil sich Chlor bisher aber nur schlecht speichern ließ, hatte das eine kontinuierliche Stromabnahme zur Folge. Zusammen mit der Industrie haben wir daher einen Chlor-Speicher entwickelt, der auf Polychloriden basiert und mit dem sich Stromüberschüsse im Netz ausnutzen lassen, um Chlor zu produzieren und zu speichern. 

Als Chemiker sehe ich mich aber auch in der Verantwortung, Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden, etwa für die Stromspeicherung in der Energiewende

Wir haben auch gezeigt, dass man in einem eleganten Folgeprozess Kohlenstoffmonoxid durch den Chlor-Speicher leiten kann und bei Raumtemperatur eine Umsetzung zu Phosgen bekommt. Phosgen wird zur Herstellung von Polymeren wie Polyurethanen benötigt, also Schaumstoff, aus dem zum Beispiel Matratzen sind. Normalerweise geschieht die Synthese bei 450 Grad Celsius mit Chlorgas an einem Kohlenstoff-Katalysator. Unser Prozess braucht viel weniger Energie, weil der Chlor-Speicher nicht erwärmt werden muss. Zudem arbeiten wir daran, aus dem anfallenden Chlorwasserstoff das Chlor zurückzugewinnen und Wasserstoff quasi als „Abfallprodukt“ zu erhalten, welcher für die Energiewende stark nachgefragt wird.

Gemeinsam mit der Industrie treiben wir auch ein Projekt zu Schwefelhexafluorid voran. Das ist ein Gas, das früher mal für die Dämpfung in Turnschuhen oder Isoliergas verwendet wurde. Seitdem bekannt ist, dass es ein Treibhausgaspotenzial hat, das 22.500 Mal höher ist als CO2, ist die Verwendung deutlich eingeschränkt worden. Mangels Alternativen wird es aber in Hochspannungsschaltanlagen noch genutzt. Mein Team hat hierfür einen Ersatzstoff entwickelt, der ein sehr viel geringeres Treibhausgaspotenzial, aber ähnlich gute Isolator-Eigenschaften aufweist.  

Ohne halogenierte Verbindungen werden wir so bald nicht auskommen, sie sind omnipräsent. Um sie umweltschonender zu nutzen, sie zu recyceln und in neue Produkte umzuwandeln, müssen wir ihr chemisches Verhalten genau verstehen. Hierin sehe ich unsere Herausforderung.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth