Fließende Gewissheiten

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Die Globalgeschichte stellt Gewissheiten nationaler Geschichtsschreibung infrage. Michael Goebel erforscht, wie sich Migration, Welthandel und andere globale Einflüsse in Städten zu Ungleichheiten oder politischer Sprengkraft vermengen. 

Hafenstädte sind dankbare Orte, um Globalgeschichte zu betreiben, denn hier ist ständig etwas im Fluss: Waren, Menschen und Ideen kommen und gehen. Und dennoch sind diese Städte keine Räume, die immer durchlässig sind. Auch hier verankern sich Grenzen. Bestimmte Stadtviertel können über Jahrhunderte mit ethnischen, religiösen oder nationalen Communities assoziiert bleiben, sei es Chinatown oder Little Italy oder die Quartiere von Nachkommen ehemaliger Sklav:innen in den Amerikas. 

Ich schaue mir insbesondere Hafenstädte an, die im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert durch Einwanderung extrem schnell gewachsen sind. Es sind die Häfen jener Weltgegenden, die durch den Export von Primärprodukten in Industrieländer einen Boom erfahren haben: Getreide und Fleisch aus Argentinien, Kautschuk aus Malaysia, Zuckerrohr aus Kuba, Rio de Janeiro oder Manila.  

Mir geht es darum, zu fragen: Wie wirkt sich die Einbindung in die Weltwirtschaft und in kapitalistisches Wirtschaften im Stadtraum aus? Wie produziert die globale Integration Formen sozialer Ungleichheit und wie werden die Städte selbst zu Produzenten von Ungleichheit, indem Segregation im Stadtraum entsteht und der Zugang zu Bildung und Einkommen begrenzt wird? Die übergeordnete Frage ist für mich, ob Globalisierung Ungleichheit verstärkt, und wenn ja, wie sie dies tut. Mir liegt daran, gegenwärtige politische und gesellschaftliche Debatten historisch besser zu verankern, auch wenn das natürlich nicht unbedingt dazu führt, dass man genau weiß, was man heute zu tun hat. 

Globalgeschichte befasst sich im weitesten Sinne mit den Gründen und Auswirkungen von Globalisierung, mit der Intensivierung des Welthandels, der Migration und Ausbreitung von Kapitalismus und Kolonien. Als Teilbereich der Geschichtswissenschaft legt sie den Fokus auf Phänomene weltweiter Verbindungen und Vernetzungen. Sie ist ein Produkt der Internationalisierung und Digitalisierung des Wissenschaftsbetriebes, der Diversifizierung unserer Gesellschaft und der gesellschaftlichen Debatte über Globalisierung und ihre Folgen. 
 

Mir liegt daran, gegenwärtige politische und gesellschaftliche Debatten historisch besser zu verankern, auch wenn das natürlich nicht unbedingt dazu führt, dass man genau weiß, was man heute zu tun hat

Vor dem Aufstieg der Globalgeschichte wurde die Entstehung und politische Kraft des Nationalismus in der Geschichtsschreibung überwiegend aus den Nationen selbst heraus erklärt. Doch Nationalismus beruht keineswegs ausschließlich auf den Selbsterneuerungskräften einer abgeschlossenen nationalen Einheit. Diese alte Gewissheit ist irreführend. Die Nationalstaatswerdung in Vietnam etwa lässt sich nicht getrennt davon betrachten, was zur gleichen Zeit in Algerien passierte. Im Paris der Zwischenkriegsjahre politisierten sich antikoloniale Nationalisten wie Ho Chi Minh im Austausch miteinander, weil die legalen und sozialen Ungleichheiten des französischen Kolonialreichs dort besonders augenfällig wurden. Paris wurde zu so einer Brutstätte antikolonialer Nationalismen in den französischen Kolonien. 

Die globalhistorische Perspektive ermöglicht eine neue Erzählung, in der es um Verbindungen geht statt um Isolation. Das heißt nicht, dass man immer den ganzen Globus im Blick haben muss. Die Raumabdeckung ist nicht planetarisch, es kann durchaus um sehr kleine geografische Räume und um kurze Zeiträume gehen – das Paris der Zwischenkriegsjahre etwa. Das heißt auch nicht, dass immer alles mit allem verbunden und im Fluss ist und Ideen wie der Nationalstaat dadurch verschwinden. Das Gegenteil ist der Fall, wie man derzeit in vielen Ländern beobachten kann. Mir ist wichtig, dass wir das nicht aus den Augen verlieren. 

Die Globalgeschichte selbst hat imperialistische Tendenzen, weil sie sich immer weiter ausbreitet. Für Deutschlandhistoriker:innen wird es schwieriger zu rechtfertigen, dass sie sich ausschließlich für Deutschland interessieren. Ich kann mir daher vorstellen, dass das Etikett Globalgeschichte irgendwann überflüssig sein wird, quasi eine Selbstverständlichkeit. 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth