Gesellschaft im Labor

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Was macht es mit Menschen, wenn sie im Krieg leben? Wofür gehen sie auf die Straße? Und wie wichtig ist ihnen die Freiheit? Gwendolyn Sasse analysiert, wie die Gesellschaften Osteuropas ticken. Mit empirischer Forschung will sie nutzbares Wissen für Politik und Öffentlichkeit schaffen.

Wir brauchen den sozialwissenschaftlichen Blick in Gesellschaften. Mit empirischen Methoden können wir ähnlich wie in einem Labor erfassen, was mit Menschen passiert, wenn sie Transformationsprozesse, Umwälzungen oder Kriege erleben. Dafür erheben wir kontinuierlich Daten. Selbst große Konzepte wie Demokratie, Autoritarismus oder Identität können wir so in Teilen empirisch erfassen. Natürlich stehen wir dabei nicht im weißen Kittel da, denn Gesellschaften sind etwas anderes als Mikroben. Es braucht Empathie, um sie zu verstehen. Wir fragen danach, wie Menschen sich verhalten, welche Erwartungen, Hoffnungen oder Wahrnehmungen sie haben – und wie das in der Politik ein Echo findet oder auch nicht.  

Seit vielen Jahren forsche ich zu gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Osteuropa, vor allem zu Russland, der Ukraine und Belarus. Mich interessieren die Dynamiken von Massenprotesten, Konflikten und Kriegen, sowie Demokratisierungsprozesse und autoritäre Tendenzen. Osteuropa ist dafür eine äußerst ergiebige Region. Wir erarbeiten Umfragen und schaffen damit auf der Basis regionaler Expertise eigene statistische Daten. Diese kombinieren wir mit Fokusgruppen-Diskussionen, um herauszufinden, was den Menschen wirklich wichtig ist, sowie mit längeren Interviews mit Einzelpersonen, die aus ihren Erfahrungen berichten. Zusammengenommen können wir so ein Gespür dafür entwickeln, was die Leute bewegt.

Zu Belarus haben wir am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien zum Beispiel Forschung zu Massenprotesten gemacht und in Russland erhoben, wie Auslandskontakte die politische Einstellung der jungen Generation beeinflussen. Beides würde heute so nicht mehr gehen. Aus Angst vor Repressionen würde kaum noch jemand an solchen Befragungen teilnehmen, wenn diese überhaupt von den politischen Regimen zugelassen würden.  

Es ist sehr wertvoll zu erforschen, was Gesellschaften bewegt. Denn häufig kriegt man nur die Aussagen von Eliten zu hören, die etwa eine Entscheidung über Krieg und Frieden fällen. Es gibt eine große Lücke im Wissen darüber, was Menschen im Alltag denken und erleben – was Kriege mit ihnen machen, wie sie sich in autoritären Systemen einrichten und wann sie auf die Straße gehen, um für Freiheit zu kämpfen.   

Gesellschaften sind etwas anderes als Mikroben. Es braucht Empathie, um sie zu verstehen. Wir fragen danach, wie Menschen sich verhalten, welche Erwartungen, Hoffnungen oder Wahrnehmungen sie haben.

Ich beschäftige mich seit meiner Promotion mit der Ukraine. Auch jetzt setzen wir unsere Arbeit dort fort, soweit das geht. Momentan ist es natürlich nicht eindeutig, wie repräsentativ unsere Daten sind, aber ich bin der Meinung, dass wir es nicht verpassen dürfen, diesen Moment zu erfassen. Wir schauen zum Beispiel auf die Frage der Identität, auf Ansichten zur Demokratie und zur Integration in westliche Institutionen. Ein Trend, den wir seit 2014 sehen ist, dass die Leute sich durch Russlands Aggression noch viel stärker über Staatsbürgerschaft definieren und das Verständnis vom ukrainischen Staat ausgeprägter geworden ist. Eine klare Mehrheit der Ukrainer:innen will ein anderes politisches Modell als das russische und in einer Demokratie leben. Das war auch vor dem groß angelegten Angriffskrieg ab Februar 2022 zu beobachten.  

Es ist wichtig, dass die Sozialwissenschaften Wissen für Politik und Öffentlichkeit generieren. Bei der Invasion Russlands in die Ukraine hat man gesehen, wie wichtig Expert:innenwissen zu Osteuropa sein kann. Für viele war der Angriff eine große Überraschung, obwohl der Krieg schon seit 2014 läuft, die wenigsten konnten die Ukraine überhaupt einordnen. In den Köpfen verschwimmen noch immer die Grenzen zwischen Russland und anderen aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten. Und wenn man zum Beispiel sagt, die Krim gehöre historisch zu Russland (auch wenn man die Annexion als Völkerrechtsbruch bezeichnet), hat man schon die offizielle russische Sichtweise unkritisch übernommen. Daher sehe ich es als unsere Verantwortung, ein sehr viel differenziertes Bild Osteuropas präsent zu machen als es in vielen Köpfen existiert. So wie Biologen und Virologen versuchen, uns Corona zu erklären.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth