Im Sog der Geometrie

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Wie entstehen Ozeanwirbel, wie lösen sie sich wieder auf? Wie verbreiten sich Meinungen, wie entsteht Konsens in sozialen Gruppen? Der Mathematiker Gary Froyland nutzt Beobachtungsdaten und Modelle dynamischer Systeme, um die Entwicklung komplexer Prozesse zu verstehen.

Wenn ich Blätter in einem Fluss betrachte, die in der Strömung umherwirbeln, erkenne ich darin Geometrie. Die Blätter im Wasser liegen etwa zunächst in einem Kreis auf der Oberfläche, der dann zu einer Ellipse ausgedehnt und zu einem Strudel verzerrt wird. Modelle dynamischer Systeme gehen davon aus, dass die Geometrie, die einer Dynamik zugrunde liegt, für das Verständnis des gesamten Systems wichtiger ist als die Bewegung der einzelnen Objekte. Die Geometrie wäre in diesem Fall die ungefähre Form der Ansammlung der Blätter auf der Wasseroberfläche.

Die dynamischen Systeme, die ich untersuche, sind Modelle von Prozessen, die sich über die Zeit entwickeln. Besonders interessieren mich die physikalisch bedingten Bewegungen des Ozeans und der Atmosphäre. Strömungen in der Tiefsee entstehen durch die Bewegung von Wasser, das sich von Gebieten mit hoher Dichte zu Gebieten mit niedriger Dichte bewegt. Der Wind in der Atmosphäre besteht aus Luftpaketen, die sich von Hoch- zu Tiefdruckgebieten verschieben.

In den letzten fünfzehn Jahren habe ich versucht, Systeme zu analysieren, bei denen sich die Gesetze der Bewegung im Laufe der Zeit verändern, wie es bei vielen realen Phänomenen der Fall ist. In der Regel starte ich mit der reinen Mathematik und sobald ich eine gute theoretische Grundlage habe, gehe ich zu den Algorithmen und Berechnungen der Objekte über. Von Ozeanograph:innen oder Klimawissenschaftler:innen erhalte ich empirische Daten und komplexe Modelle realer Probleme.

An der Freien Universität Berlin und in Zusammenarbeit mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) untersuchen wir die Geometrie der Bewegung in Ozean- und Atmosphärenmodellen. Ozeanwirbel sind ein gutes Beispiel für solche geometrischen Strukturen. Sie sind wie Wirbelstürme im Wasser, einige von ihnen haben einen Durchmesser von Hunderten von Kilometern, drehen sich aber viel langsamer. Auf diese Wirbel entfällt mehr als die Hälfte der kinetischen Energie des Ozeans; sie transportieren Wärme, Salz und Kohlenstoff. Das Wasser in diesen Wirbeln ist vom umgebenden Wasser getrennt, und je nachdem, in welche Richtung sie sich drehen, können sie Nährstoffe vom Meeresboden hinauftransportieren oder sie nach unten drücken und so biologischen Wüsten erzeugen.

Niemand hat bisher die Kinetik von Wirbeln komplett durchschaut. Wir versuchen zu verstehen, wie sie entstehen, sich bilden, bewegen und nach einigen Monaten oder Jahren wieder auflösen. Wir versuchen Techniken zu entwickeln um ihren Lebenszyklus zu beobachten und zu erklären.

Strömungen in der Tiefsee entstehen durch die Bewegung von Wasser, das sich von Gebieten mit hoher Dichte zu solchen mit niedriger Dichte bewegt

Wer sich mit klassischen dynamischen Systemen beschäftigt, würde einzelne Wasserteilchen betrachten, aber bei komplexen Systemen ist es sinnvoller, eine sehr große Ansammlung von Teilchen zu betrachten. Auf diese Weise können wir etwas über das gesamte System auf einmal erfahren. Sollten wir die Dynamik von Ozeanwirbeln wirklich berechnen können, wäre das ein Durchbruch für die Physik und die Strömungsmechanik. Wir könnten dann erstmals genauer abschätzen, wie viel kinetische Energie in diesen Wirbeln gebunden ist und wie viel Wärme oder Kohlenstoff sie durch den Ozean transportieren. 

Ein zweiter Teil meiner Forschung in Berlin und Potsdam konzentriert sich auf soziale Dynamiken. Wir wollen beobachten, nach welchen Regeln sich Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen in sozialen Medien bilden und verbreiten und wie Konsens entsteht. Wir werden anerkannte Modelle für soziale Dynamiken verwenden, zum Beispiel für Wahlen, um aus Entscheidungen einzelner Akteure Schlussfolgerungen für Gruppenentscheidungen zu ziehen. 

Viele der heutigen gesellschaftlichen Probleme sind, denke ich, sozialer Natur: Wie bringen wir Menschen dazu, freundlich miteinander umzugehen? Die sozialen Medien haben einen enormen Einfluss, der manchmal negativ sein kann. Wenn wir besser verstehen, wie sich Meinungsblasen bilden, könnten wir deren zerstörerische Kräfte besser eindämmen.

Ich versuche, durch Mathematik einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, wo immer ich kann. Deswegen habe ich auch an der Optimierung der Strahlentherapie für Lungenkrebspatient:innen mitgearbeitet, um die Strahlendosis zu verringern und zugleich die Bildgebungsverfahren genauer zu machen. Ich fände es eine gute Idee, wenn sich alle Mathematiker einmal im Jahr für Aufgaben engagierten, die der Gesellschaft nutzen.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth