Launische Nervenzellen

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Haben Nervenzellen eine Persönlichkeit? Die Neurophysiologin Susanne Schreiber entwickelt mathematische Modelle der biophysikalischen Eigenschaften von Nervenzellen, um über Spezies hinweg Prinzipien der Informationsverarbeitung im Gehirn zu erkennen. Damit will sie auch die künstliche Intelligenz voranbringen.   

Nervenzellen haben unterschiedliche Charaktere. Es ist ähnlich wie beim Menschen: Wenn sich eine Gruppe von Cholerikern beratschlagt, kommt etwas anderes heraus als bei einer Gruppe von Lethargikern. Bei Nervenzellen liegt der Unterschied in den biophysikalischen Eigenschaften, zum Beispiel der Art, wie die Ionenkanäle in der Zellmembran Ionen durchlassen, um elektrische Pulse zu erzeugen. Je nachdem, wie schnell und wann sich die Kanäle öffnen, unterscheidet sich ihre „Persönlichkeit“. 

Mich interessieren die grundlegenden Mechanismen wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Ich betrachte dabei vor allem die Eigenschaften einzelner Nervenzellen, um ihr Zusammenspiel in Netzwerken zu verstehen. In meiner Arbeitsgruppe erstellen wir mathematische Modelle von Neuronen, welche die Dynamik der Ionenkanäle erfassen. Wir können ihre biophysikalischen Eigenschaften im Rechner quasi nachbauen und so das Verhalten der Zellen simulieren. Gängige neuronale Modelle, insbesondere Modelle künstlicher Intelligenz, beachten nur, welche Nervenzellen miteinander verschaltet sind, wer also mit wem redet. Ich gehe davon aus, dass auch die Persönlichkeiten der einzelnen Zellen eine wichtige Rolle für die Rechenprozesse im Gesamtnetzwerk spielen. 

Dafür schaue ich mir die Neuronen und Nervensysteme unterschiedlicher Spezies an – von Grashüpfern, Quallen, Fruchtfliegen oder Nagetieren, aber auch von Menschen. Denn jede Art hat bestimmte Aufgaben im Gehirn anders gelöst. Gleichzeitig gibt es viele Gemeinsamkeiten, also Prinzipien, die über Spezies hinweg gelten. Zu verstehen, warum sich etwas genauso entwickelt hat, wie wir es heute vorfinden, wie es evolutionär optimiert wurde, finde ich äußerst spannend. 

Heuschrecken zum Beispiel besitzen ein Netzwerk aus rund 100 Zellen, um Geräusche zu verarbeiten und ihre Fortpflanzungspartner anhand des Gesangs zu erkennen. Es folgt ähnlichen Verarbeitungsprinzipien wie denen im auditorischen Cortex beim Menschen. Beide nutzen das Prinzip einer spärlichen elektrischen Aktivität, damit das Verarbeiten der akustischen Signale nicht zu viel Energie verbraucht. Das hat sich bei vielen Spezies bewährt, auch wenn bei Säugetieren viel mehr Informationen aus dem Eingangssignal herausgelesen werden können.

Biologische Intelligenz und künstliche Intelligenz können in Zukunft noch viel mehr voneinander profitieren

Für bestimmte Zellen haben wir im Modell vorhergesagt, dass sie ihre Persönlichkeit wechseln und auf einen anderen Pulsgenerierungstyp umschalten, wenn sich die Temperatur ihrer Umgebung erhöht. Sie haben danach die Tendenz, ihre Aktivität innerhalb des Netzwerks sehr stark gleichzuschalten, wie es bei epileptischen Anfällen vorkommt. In Zusammenarbeit mit dem Einstein-Professor Dietmar Schmitz von der Charité haben wir daraufhin Messungen an Hirnschnitten durchgeführt und festgestellt, dass tatsächlich ein Drittel eines bestimmten Zelltyps im Hippocampus von Mäusen und Ratten bei einer Temperaturerhöhung eine andere Persönlichkeit annimmt. 

Ich finde es immer bereichernd, wenn sich Anwendungsmöglichkeiten abzeichnen. Wenn wir den Mechanismus besser verstehen, der dazu führt, dass einzelne Nervenzellen ihre Aktivität gleichschalten, könnten wir möglicherweise vorhersagen, wann Netzwerke besonders dazu tendieren, sich aufzuschaukeln und einen epileptischen Anfall auszulösen. Das könnte die Therapieentwicklung unterstützen. 

Unsere biophysikalischen Modelle sollen auch dazu beitragen, künstliche neuronale Netzwerke zu optimieren. Mikrochips, die nach dem Vorbild neuronaler Netzwerke gebaut sind, stehen vor ganz ähnlichen Problemen wie das Gehirn: Sie müssen energieeffizient sein, den vorhandenen Raum ausnutzen und bei unterschiedlichen Temperaturen funktionieren. Biologische Intelligenz und künstliche Intelligenz können in Zukunft noch viel mehr voneinander profitieren.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth