Phönix der Zellen

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Leberversagen ist ein Todesurteil. Ludovic Vallier nutzt das natürliche Potenzial des Organs, sich selbst zu reparieren. Er züchtet Leber-Organoide, um die dahinterstehenden Regenerationsmechanismen zu verstehen und neue, auf Stammzellen basierte Therapien zu finden, die schwerkranken Lebern helfen können, sich von innen heraus zu erneuern. 

Die Leber ist das größte Organ im Körper eines Erwachsenen. In ihr dreht sich alles um die Entgiftung. Wenn wir ein Medikament einnehmen, sorgt die Leber dafür, dass es uns nicht umbringt – denn alle Medikamente sind giftig, wenn sie nicht von ihr abgebaut werden. Wenn wir unsere Leberfunktion verlieren, ist das lebensbedrohlich. Leberversagen ist weltweit eine der Hauptursachen für die Sterblichkeit. 

Für mich ist die Leber wegen ihrer Regenerationsfähigkeit faszinierend. Es gibt nicht viele Organe, die man in zwei Hälften schneiden kann, die dann nachwachsen. Warum kann das die Leber und andere Organe nicht?

Schon die alten Griechen wussten, dass die Leber nachwachsen kann. In der griechischen Mythologie brachte Prometheus das Feuer zu den Menschen und wurde dafür von den Göttern bestraft. Seine Leber wurde tagsüber von einem Adler gefressen und in der Nacht wuchs sie nach. Auch Stammzellen haben die Fähigkeit, sich ständig zu erneuern. Sie sind für mich ein bisschen wie das mythische Wesen des Phönix. Sie sind in der Lage, in ihrem Lebenszyklus vor und zurückzugehen, sich ständig zu reparieren und unseren Organen zu helfen, Krankheiten und Schäden zu widerstehen. Im Labor untersuchen wir Stammzellen und die Biologie der Leber, um neue Therapien zu entwickeln. 

Ein Großteil unserer Arbeit befasst sich mit der nichtalkoholischen Fettleber, also der Anhäufung von Fett in der Leber bei Diabetes und Fettleibigkeit aufgrund der modernen Ernährung. Wir schätzen, dass 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung eine Fettleber haben. Bei vielen entwickelt sich das zu einer chronischen Krankheit. Die Fettansammlung führt dann zum Zelltod und die Leber verwandelt sich nach und nach in eine Art Stein. Irgendwann hört sie einfach auf zu funktionieren. Solche Patient:innen benötigen eine Organtransplantation, für die es aber nur wenige Spender:innen gibt und die sehr riskant ist. 

Wir wollen Therapien finden, die Lebertransplantationen ersetzen. Dabei verfolgen wir drei Ansätze: Erstens versuchen wir, Medikamente zu entwickeln, die das Fortschreiten der Krankheit blockieren oder die verursachte Schädigung aufhalten. Wir testen Medikamente in vitro an komplexen Leber-Organoiden mit Blutgefäßen und Gallengängen, um kleine Moleküle zu finden, die diese Aufgabe erfüllen können. Aber das wird nicht für alle Arten von Leberkrankheiten ausreichen. Deshalb suchen wir zweitens nach Möglichkeiten, die natürlichen Regenerationsmechanismen der Leber zu kontrollieren und zu beschleunigen. 

Wissenschaft ist für mich und mein Team nicht nur ein Job, sie ist eine Leidenschaft. Wir müssen immer wissen, warum wir das tun: Weil wir eine Mission haben

Unser vielversprechendster Ansatz ist die zellbasierte Therapie. Wir nutzen pluripotente Stammzellen, um die benötigten Zelltypen der Leber in vitro zu züchten, und injizieren sie in die Pfortader – eines der Hauptgefäße, die zur Leber führen. Diese transplantierten Zellen dringen in das Organ ein und beginnen dort, geschädigte oder fehlende Zellen zu ersetzen. 

Wir arbeiten daran, die Fähigkeit dieser injizierten Zellen zu verbessern, in die Leber einzudringen und sich in der richtigen Nische anzusiedeln. Wir haben bereits gezeigt, dass dies bei Mäusen funktioniert, jetzt wollen wir es auf den Menschen übertragen. Die zellbasierte Therapie wird in den nächsten Jahren eine neue Generation von Behandlungen ermöglichen – eine ganz neue Art der Medizin. 

Über viele Jahre gab es nur wenige Studien zur Leberbiologie, weil die Hauptursache für Leberversagen Alkoholismus ist und es dafür kaum finanzielle Mittel gab. Jetzt explodieren die Studien über die Leber geradezu, es ist ein sehr dynamisches Gebiet mit vielen interessanten Fragen und einem klaren klinischen Bedarf. Das motiviert mich sehr. Ich möchte die grundlegenden Mechanismen verstehen und dieses Wissen zum Nutzen der Patient:innen und der Gesellschaft einsetzen. 

Wissenschaft ist für mich und mein Team nicht nur ein Job, sie ist eine Leidenschaft. Wir widmen ihr einen großen Teil unseres Lebens, bringen viele Opfer, setzen viel Zeit und Energie ein. Deshalb müssen wir immer wissen, warum wir das tun: Weil wir eine Mission haben. Sonst würde es nicht funktionieren. 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth