Affektives Lesen

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Es gibt eine Zwischenwelt der Gefühle. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Weber vergleicht die Werke experimenteller Autor:innen, um zu verstehen, wie sie Gefühlsnuancen zum Ausdruck bringen, die einer verengenden Wahrnehmung des Emotionalen entgegenwirken.

Experimentelle Literatur fordert uns heraus. Sie ist schwer lesbar und genau darin liegt ihr Potenzial. Sie kann dazu führen, dass wir bestimmte Schemata, mit denen wir alles Wahrgenommene einordnen, vergessen müssen, um uns ganz neu einzulassen. Ich befasse mich mit hochgradig experimentellen Texten aus den 1970er Jahren, die sich kaum an traditionelle Textlogiken halten. Es gibt in ihnen wenig Handlung, keine eindeutig erkennbaren Figuren und keine lineare Chronologie.

Viele Leser:innen wissen nicht, was sie mit diesen Texten anfangen sollen. Doch wer sich auf sie einlässt, erfährt oft, dass sie eine unglaubliche Sogwirkung entfalten können. Die Fokussierung auf Raum, Zeit, Handlung und Figuren löst sich auf zugunsten von Rhythmen, Wortwiederholungen und anderen Strukturen, die sich erst nach und nach erschließen. So entstehen beim Lesen ungewohnte Verknüpfungslogiken, die man sich wie neue Synapsenverbindungen im Gehirn vorstellen kann. 

Einer der Texte, die ich analysiere, ist der 1973 erschienene Roman Triptyque von Claude Simon, der versucht das Kompositionsprinzip des Triptychons in der Malerei auf einen literarischen Text zu übertragen. Der spätere Nobelpreisträger verleiht seinen persönlichen Affekten bestimmten Gemälden gegenüber Ausdruck, indem er ein Gefühlstableau schafft. Dabei entsteht eine Vielzahl von Affekten, die wahrnehmbar und spürbar werden, ohne dass man sie jemals eindeutig zu fassen bekommt.

Ein anderer experimenteller Text, den ich mir anschaue, ist der Roman Tripticks von Ann Quin, der ein paar Monate zuvor erschien. Darin erzählt ein namenloser und psychisch labiler Ich-Erzähler von seiner Reise durch die USA, bei der er möglicherweise von seiner Exfrau und deren neuem Freund verfolgt wird. Quin überblendet die Wahrnehmungen, Emotionen und Erinnerungen des Erzählers auf seiner mäandernden Fahrt durch die USA mit zahlreichen popkulturellen Referenzen und Werbetexten, sodass eine Unterscheidung zwischen der Innen- und Außenwelt der Figur unmöglich wird. An die Stelle einer klaren Unterscheidbarkeit zwischen seiner Figur und Umwelt tritt ein komplexes Beziehungsgeflecht von materiellen und diskursiven Affizierungen.

Wenn affektive Zwischentöne nicht mehr zur Sprache kommen, können stereotype Vorstellungen Überhand gewinnen

Beide Texte versuchen mit unterschiedlichen Verfahrensweisen Gefühlsdynamiken und schwer benennbare Gefühlsnuancen zum Ausdruck zu bringen. Ich stütze mich bei meinen Analysen auf die Affect Theory. Diese unterscheidet zwischen Affekten, Gefühlen und Emotionen: Es gibt die Affekte, die wir oftmals noch nicht bewusst wahrnehmen. Dann gibt es die Gefühle, die wir bewusst wahrnehmen, aber noch nicht gut in Worte fassen können. Und schließlich die Emotionen, die klar benennbar und kulturell codiert sind. Die Affect Theory geht davon aus, dass bestimmte Affekte und Gefühle gar nicht erst zur Versprachlichung kommen, weil sie kulturell als nicht so wichtig erachtet werden. Wenn aber affektive Zwischentöne nicht mehr zur Sprache kommen, können stereotype Vorstellungen Überhand gewinnen.

Experimentelle Literatur macht durch ihre herausfordernden Verfahren gerade die unterbewussten Affekte wahrnehmbar. Statt sich auf wenige sogenannte "Basisemotionen" zu beschränken, wie es etwa die Kognitionspsychologie vorschlägt, betont sie damit die Vielfältigkeit des Emotionalen. Auf der Seite der Rezeption lässt sich von einem affektiven Lesen sprechen, also einem Lesen, bei dem man sich die affektiven Zustände, die in den Texten zur Sprache kommen, selbst aneignet. Als Literaturwissenschaftlerin ist es mir ein großes Anliegen, die Möglichkeiten einer affektiven Kommunikation von unterbelichteten Gefühlsdynamiken durch Literatur sichtbar zu machen.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth