Infektionskrankheiten können Gesundheitssysteme überwältigen. Stefan Flasche nutzt mathematische Modelle, um ihre Ausbreitung vorherzusagen und optimale Impfstrategien zu berechnen.
Wir alle haben Modelle der Realität im Kopf, die unsere Beobachtungen einbeziehen. So erklären wir uns, wie die Welt funktioniert. Mathematische Modelle haben die gleiche Aufgabe: Sie reduzieren Komplexität. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist ein hoch komplexer Prozess, den man nie in allen Details nachvollziehen kann. Der große Vorteil von Modellen ist, dass sie ihn systematisch abbilden können, indem sie Evidenzen einbeziehen und auf wesentliche Mechanismen herunterbrechen. Sie sind wie ein Projektor, der die Infektionsdynamik in der Zukunft zeigt.
Ich berechne, wie sich Infektionskrankheiten ausbreiten und welche Interventionen und Impfstrategien am effizientesten sind. Bei der Covid-19-Pandemie haben wir gesehen, dass man unglaublich viele Möglichkeiten der Intervention hat. Das klinische Herangehen ist, beim Auftreten von Symptomen schwereren Verläufen entgegenzuwirken. Das ist essenziell, reicht aber im Kontext einer Pandemie selten aus. Bei ungehinderter Verbreitung kann es innerhalb von Wochen vom ersten Schwerkranken zur Überfüllung der Krankenhäuser kommen.
Hier können Modelle die systematische Entscheidungsfindung unterstützen. Differentialgleichungen können die Krankheitsausbreitung beschreiben. Es beginnt mit dem Versuch zu verstehen, wie viele Leute infiziert sind – dem Situationsbewusstsein. Daraus lässt sich ableiten, wie schlimm es werden kann, wie sich die Krankheit verbreitet – und wie sie sich am besten eindämmen lässt. In Deutschland wird dieses Forschungsfeld jetzt gestärkt: Ein Modellierungsnetzwerk ist im Aufbau und es gibt mit mir erstmals einen Impfmodellierer in der Ständigen Impfkommission.
Um zu belastbaren Modellen zu kommen, braucht es die Expertise der Medizin, insbesondere von Immunologie und Epidemiologie. Wir basieren unsere Modelle auf Surveillance-Daten, den routinemäßigen Erhebungen der Ansteckungsfälle, die aber nur die Spitze des Eisbergs zeigen. Um die Ansteckungsdynamik abzubilden, stützen wir uns zudem auf Trägerstudien, die erheben, wer infiziert ist und wer weiterverbreiten kann. Dazu kommen serologische Daten, die die Immunantwort abbilden und Aufschluss darüber geben, wer infiziert war oder nicht, was Rückschlüsse auf die Verbreitung zulässt. All diese Evidenzen beziehen wir ein, um abzuwägen: Was bringt eine Intervention und was eine andere? Welche Krankheitslast ist vermeidbar? Und was sind die Kosten? Für Deutschland wägen wir gerade ab, welche Prävention für das Respiratorische Synzytial-Virus sinnvoll ist.
Ich bin hier in Berlin am Charité Center für Global Health tätig. Neben der deutschen Perspektive habe ich daher die globale im Blick. Unsere Modelle helfen, Impfprogramme effizienter zu gestalten, um die Kosten für ärmere Länder zu minimieren und die globalen Impfquoten aufrecht zu erhalten oder gar zu stärken. Sie zeigen zum Beispiel, wie man die Herdenimmunität nutzen kann: Wenn man Kinder gegen Pneumokokken impft, hilft man nicht nur ihnen, auch die Erwachsenen profitieren dann ohne eigenen direkten Schutz, weil der Impfstoff in Kindern die Weiterverbreitung stark einschränkt.
Meine Modelle waren bereits Grundlage von gesundheitspolitischen Strategien. Wir haben in den frühen Tagen von Ebola mit Ärzte ohne Grenzen e.V. in Sierra Leone zusammengearbeitet, um die Ausbreitung vorherzusagen. Das hat dazu geführt, dass die Größenordnung des Problems vor Ort grundlegend überdacht wurde. Auf Ebene der Weltgesundheitsorganisation sind Ergebnisse meiner Modelle zu Dengue-Fieber und Pneumokokken in die globalen Impfempfehlungen aufgenommen worden.
Jede Infektionskrankheit hat ihre Eigenheiten. Mein Ziel ist es, ihre Komplexität und ihre Feinheiten in Modellen abzubilden. Damit möchte ich das strukturierte Denken fördern, um Entscheidungen zu verbessern. Die wesentliche Optimierungsvariable dabei ist für mich: Leben retten.
Aufgezeichnet von Mirco Lomoth