Weichen des Zufalls

Der Zufall beeinflusst viele Prozesse der realen Welt, zum Beispiel die Entwicklung von Tagestemperaturen. Tobias Hurth erarbeitet die mathematische Theorie, die es braucht, um den Zufall handhabbar zu machen. 

Mein Arbeitsfeld ist der Zufall. Wenn man berechnen will, wie zum Beispiel die Tageshöchsttemperatur in Berlin heute in einer Woche sein könnte, dann ist es sinnvoll, Zufallsgrößen in ein mathematisches Modell aufzunehmen. Das Wirken einer zufälligen physikalischen Kraft kann dabei durch weißes Rauschen modelliert werden, das die Idee zufälliger Stöße ohne vorherrschende Richtung beschreibt. Solche Modelle bezeichnen wir als zufällige dynamische Systeme. 

Vereinfacht kann man sich ein zufälliges dynamisches System als eine Menge von Teilchen vorstellen, die sich unter dem Einfluss eines zufälligen Kraftfeldes bewegen. Als Bifurkation, mit der ich mich in meiner Forschung befasse, bezeichnen wir in der Mathematik eine qualitative Änderung des Langzeitverhaltens der Teilchen, die durch einen stetigen Übergang bestimmter Parameterwerte hervorgerufen wird. 

Man kann sich Bifurkation als eine Art Weiche des Zufalls vorstellen. Je nachdem, welches Gleis man nimmt, beobachtet man ein anderes Langzeitverhalten des Systems. Die Wahl des Gleises entspricht der Wahl von Parametern des Systems. Für bestimmte Parameter kann es sein, dass ein Punkt im System alle Teilchen anzieht; für andere Parameter gibt es mehrere anziehende Punkte. Bifurkationen zu analysieren ist wichtig, weil man durch sie Aufschlüsse über die grundsätzliche Struktur eines dynamischen Systems erhält.

Bifurkationen lassen sich zum Beispiel in der Ökologie beobachten. Wenn zwei Spezies im selben Ökosystem interagieren, kann es sein, dass eine Spezies die andere verdrängt. Dabei spielen Faktoren eine Rolle, die in gewissen Grenzen zufällig passieren, wie zum Beispiel das Einsetzen der Jahreszeiten. Wenn der Winter früher eintritt oder sich das Temperaturverhalten innerhalb der Jahreszeiten ändert, kann die Populationsentwicklung einer Art plötzlich vor einer Bifurkations-Weiche stehen – und sich durch ein neues Kräfteverhältnis in die eine oder die andere Richtung entwickeln. 

Man kann sich Bifurkation als eine Art Weiche des Zufalls vorstellen. Je nachdem, welches Gleis man nimmt, beobachtet man ein anderes Langzeitverhalten des Systems.

Maximilian Engel und ich interessieren uns für Bifurkationen in zufälligen dynamischen Systemen mit Absorption. Die Idee der Absorption hilft uns damit umzugehen, dass die Teilchen innerhalb eines Systems sich im Laufe der Zeit durch Zufall sehr weit von ihren Ausgangspunkten entfernen können. Wir beschränken uns bei unseren Betrachtungen auf die Teilchen, die innerhalb eines festgelegten Raumes bleiben, und diejenigen, die ihn verlassen, werden absorbiert. So lassen sich Bifurkationen in zufälligen dynamischen Systemen sinnvoll beschreiben und in mathematischen Modellen nutzen. Im Beispiel der Populationsentwicklung kann das Konzept der Absorption helfen, durch Modellierung ausschließlich biologisch sinnvolle Lösungen zu erhalten und das Aussterben einer Population abzubilden.

Ein Ziel der Mathematik ist für mich, grundlegende Werkzeuge zu liefern, die später in ganz verschiedenen Bereichen genutzt werden können. Der Weg zur Anwendung ist jedoch oft sehr lang. Bei unserem Projekt müssen dafür zunächst die theoretischen Grundlagen gelegt werden. Das heißt, wir müssen zuerst eine Theorie für Bifurkationen in zufälligen dynamischen Systemen mit Absorption entwickelt haben. 

Bestenfalls ist die daraus resultierende Mathematik so gut, dass sie helfen kann, Probleme zu lösen, die bislang unlösbar waren, und Vorgänge zu verstehen, die unverstanden sind. Das ist für mich eine der Kulturleistungen der Mathematik.

 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth