Der lyrische Spiegel

Lyrik entsteht nie im Vakuum. Sie ist eingebettet in das, was zuvor dagewesen ist. Die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Karen Leeder erforscht die Schichten der Zeit in der neueren deutschen Lyrik.

Gedichte sind wie ein Spiegelbild. Man kann dadurch sich und die eigene Welt wiedererkennen, wie in einem Spiegel. Das entfacht etwas in einem. Wenn man ein Klagelied aus dem dreizehnen Jahrhundert oder ein Gedicht von Rainer Maria Rilke liest, kann man etwas neues über sich erfahren. Lyrik ist für mich eine Form des Kommunizierens, die Welten eröffnen kann – innere wie äußere. 

Sie ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft und der Geschichte, das Verdrängtes in Erinnerung ruft, provoziert, anprangert. Durch ihre präzise, rhythmisierte und verdichtete Sprache kann sie das Beste und das Schlechteste des Menschseins abbilden und uns mit ihrer Sprengkraft wachrütteln. 

In Berlin widme ich mich mit dem Projekt „AfterWords“ der deutschen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Wir wollen über Zeitlichkeit in der Lyrik nachdenken. Seit 40 Jahren ist Raum oder space das Entscheidende in der literaturwissenschaftlichen Theorie. Die Zeit musste dahinter zurücktreten. Das wollen wir ändern. Wir wollen nach einem neuen Theorierahmen für die Rezeption von Lyrik suchen, der besser fassen kann, wie lyrische Werke durch die Jahre zirkulieren. 

Ich übersetze viel Gegenwartslyrik ins Englische. Dabei gehe ich sehr offen an Gedichte heran, lese sehr genau, lasse die Worte wirken. Dann erst nehme ich Abstand und gehe in die Analyse und Kritik, um sie auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Welt zu lesen und zu verstehen. 

Das Konzept der Afterness, auf Deutsch vielleicht „Nachträglichkeit“ oder „Nachheit“, beschreibt in der Literaturwissenschaft das Gefühl, danach zu kommen, immer zu spät zu sein und im Schatten des Vorangegangenen zu stehen. Sehr viele Lyriker:innen setzen sich zum Beispiel mit Rainer Maria Rilke auseinander, weil sie sich an ihm messen wollen, weil sie seine Sprache für eigene Zwecke anpassen möchten, weil sein Erbe auf ihnen lastet. Wir wollen verstehen, wie Lyriker:innen von der Vergangenheit heimgesucht werden oder auch ganz locker und selbstverständlich damit umgehen – wie viele jüngere Lyriker:innen dies tun. Dafür arbeiten wir mit zeitgenössischen Schriftsteller:innen, Übersetzer:innen und Künstler:innen zusammen. 

Gedichte sind wie ein Spiegelbild. Man kann sich in ihnen wiedererkennen, wie in einem Spiegel. Das entfacht etwas in einem.

Unser Projekt schaut auch darauf, wie Lyrik überliefert wird: Wie Gedichte ihren Weg von einer Sprache zur anderen finden etwa und erst so zu Weltliteratur werden. Oder wie sie in Film, Musik oder einem anderen Umfeld zirkulieren und auf diese Weise ein Nachleben führen. Ein weiterer Aspekt ("After Confession") ist, wie die lyrische Stimme – das „Ich“ oder „Wir“ in Gedichten – entsteht und wie damit gespielt wird. Wie zum Beispiel Frauen oder Minderheiten, die in früheren Zeiten keinen Zugang zu dieser lyrischen Stimme hatten, sie sich im 20. Jahrhundert angeeignet haben. Ein zukünftiger Schwerpunkt wird die Auseinandersetzung der Lyrik mit der Ökologie sein und welche Rolle sie in einer sich wandelnden Umwelt ("Natur der Natur") spielt. 

Mit meiner Arbeit würde ich gerne etwas dazu beitragen, die Geschichte der deutschen Lyrik anders zu erzählen. Sie wurde immer vom „Neuen“ ausgehend beschrieben: Rilkes Neue Gedichte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die neue Literatur der Stunde Null nach 1945 oder nach 1990. Aber man kann das umkehren und hervorheben, dass Lyrik immer eine Reaktion auf Vorangegangenes war. Denn auch wenn etwas als neu gilt, die Geschichte ist immer anwesend. 

Rilke glaubte, dass Töne nie ganz verklingen, dass die Schreie der Titanic-Opfer und die letzten Worte von Johann Wolfgang von Goethe noch in der Welt seien. Schönes Bild. Mit Tönen aus der Vergangenheit müssen wir immer zurechtkommen. 

 

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth